Zwischen Februar und August sind sie die Protagonisten in Altreu. Sie sitzen auf Dächern, Schornsteinen, Laternen und eigens für sie errichteten Nistplätzen: Störche. Und so wird bereits die Anfahrt zum Informationszentrum Witi zu einer Herausforderung, denn statt auf die Strasse schauen die Augen immer wieder in die Luft, wo die grossen Vögel von einem Dach zum anderen fliegen. Es scheint, als hätten sie Altreu fest in ihrer Hand. «Zwischen Februar und August dominieren sie ganz klar das Dorfbild», bestätigt Viktor Stüdeli den Anschein. Mit ihm werden wir später durch die Witi ziehen. «Nicht umsonst ist Altreu ein europäisches Storchendorf », erklärt er weiter. Und das heisst etwas, denn europaweit gibt es nur 15 Dörfer, die diese Auszeichnung tragen.
Mit dem «Witisheriff» a. D. an der Seite wird ein Ausflug in die Witischutzzone zu einem aussergewöhnlichen Naturerlebnis
Naturverträgliche Naherholung
Doch Altreu ist auch ein guter Ausgangsort, um die Witischutzzone, eine 32 km2 grosse kantonale Landwirtschafts- und Schutzzone, kennen zu lernen. Ziel der 1994 ausgewiesenen Schutzzone: eine offene Ackerlandschaft erhalten, eine naturnahe Bewirtschaftung fördern und den Lebensraume für Tiere und Pflanzen aufwerten. Klingt zunächst wie ein Interessenkonflikt zwischen Landwirten und der Tier- und Pflanzenwelt. «Eigentlich ist es eine Win-win-Situation, denn von fruchtbaren Böden haben langfristig alle etwas», erklärt uns Viktor Stüdeli. Als ehemaliger Aufseher der Schutzzone war er fast 20 Jahre dafür verantwortlich, dass der Natur mit dem nötigen Respekt begegnet wird. Die naturverträgliche Naherholung wie Velofahren und Spazierengehen soll ja gewahrt bleiben. Allerdings müssen ein paar Regeln beachtet werden. Seine gewissenhafte Ausübung bei der Kontrolle dieser Regeln brachte ihm den Spitznamen «Witisheriff».
«Die Einwohner wissen um die Wichtigkeit der Schutzzone und respektieren sie.»
Viktor Stüdeli «Witisheriff» a. D.
Kompost ist nicht gleich Kompost
Zu den Regeln gehört beispielsweise die Leinenpflicht von Hunden. Und das Verbot, unerlaubt Gülle zu deponieren. Auch das unerlaubte Abladen von Kompost gehört dazu. «Viele denken, dass Kompost sich ja eh auflöst und damit der Natur einfach zurückgegeben wird. Doch landen auch viele Neophyten auf dem Komposthaufen, artenfremde Pflanzen, die unsere Fauna langfristig umgestalten und schädigen können.» So wie beispielsweise das Schmalblättrige Greiskraut, eine giftige Pflanze aus Südafrika, die als Ackerunkraut auch in die Brotproduktion gelangen kann und dort Vergiftungen beim Menschen auslösen könnte. Eine nicht zu unterschätzende Bedrohung. Zumal die Witischutzzone eine einmalige Pflanzen- und Tierwelt beherbergt. Im Westen erstrecken sich die grossen Ackerflächen der Grenchner Witi. Bei lang andauerndem Regen bilden sich auf ihnen Wasserlachen. Diese werden von Wat- und Wasservögeln auf ihrem Zug zwischen Brut und Winterquartier als Rastplatz benützt. Hier finden u. a. Grosser Brachvogel und Kiebitz Nahrung.
Hasenkammer Schweiz
Als wichtige Indikatoren für einen vielfältigen intakten Lebensraum und eine erlebnisreiche Landschaft gelten die Feldhasen. Ihrem Bestand verdankt die Witi das Prädikat «Hasenkammer der Schweiz». Rund 180 Hasen tummeln sich hier, Meister Lampe geht es hier bestens. Von den Jägern werden sie gezählt, nicht gejagt. Zu ihren Feinden gehören «nur» Autos und mähende Traktoren. Doch zumindest vor mähenden Traktoren können sie und auch andere Tiere wie Rehe geschützt werden. «Mittlerweile fliegen regelmässig Drohnen, um Jungtiere aufzuspüren», erklärt uns Viktor Stüdeli. «Dieses Jahr gab es daher keine Zwischenfälle. » Und gegen den natürlichen Feind, den Fuchs, haben sich die Bauern auch etwas einfallen lassen: Sie ziehen etwa 30 cm breite «Furchen» in den Getreidefeldern. Im Gegensatz zu den breiteren Fahrrinnen der Traktoren geht der Fuchs hier nicht rein, was eventuell an den widerhakenden Grannen liegt, die fiesen Borsten vieler Gräser wie Gerste, die mit ihren Widerhaken zumindest bei Hunden zu ernsten Verletzungen führen können. Vielleicht also auch beim Fuchs.
Die neuen Sheriffs
Die Aufgabe von Viktor Stüdeli hat inzwischen die Kantonspolizei übernommen. Doch so ganz aus der Haut des Jagdpolizisten kann der ehemalige Witisheriff noch nicht. Der Landwirt, der Gülle am Feld ablegt, wird darauf hingewiesen, dass das verboten ist. Der Mountainbiker, der im Auengebiet jenseits der Uferstrasse unerlaubt unterwegs ist, wird kritisch wahrgenommen. «Im Grossen und Ganzen respektieren die Leute aber die Schutzzone. Und einzelne kleine Vergehen sind nicht schlimm.» Das mit den illegalen Komposthaufen aber irgendwie schon. Zumindest je mehr wir über die Probleme eingeschleppter Neophyten recherchieren.
Funktionale Auenlandschaft
Inzwischen sind wir an der Uferschutzzone der Aare angekommen. Die Auenlandschaft beherbergt einen unheimlichen Reichtum an Tieren und Pflanzen. Und sie ist eine ökologisch notwendige Pufferzone zwischen dem Fluss und der Landwirtschaft. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde mit den Juragewässerkorrektionen die Macht der Aare gebändigt. Die damit verbundenen grossen Entwässerungswerke und die umfassenden Flurwegnetze verwandelten die Witi in eine moderne Kulturlandschaft. Dadurch wurde es erst möglich, intensiv Landwirtschaft zu betreiben, Siedlungen auszubauen und Strassen sowie Eisenbahnlinien zu errichten. Doch die Auen zeigen, wie die Natur regiert, wenn der Mensch sich nicht einschaltet. Erfolgreiches, effizientes Chaos. Ein bisschen eingreifen muss der Mensch allerdings schon noch. Beispielsweise, wenn der Biber an die Rüebli will. «Da müssen wir die unterirdischen Wege wieder zuschaufeln», schmunzelt Viktor Stüdeli. Von der Häufigkeit dieser Aktionen können wir uns an einem Uferpfad überzeugen. Alle paar Meter zeigt uns Viktor Stüdeli zugeschaufelte Haufen.
Stetige Aufwertung
An einer Pumpe bleibt er stehen und erklärt fachmännisch ihre Funktion bei Hochwasser. «Damit wird das Grundwasser reguliert und die Felder können bewässert werden.» Als natürliche Regulierung gelten die Wassergräben, die mit der Industrialisierung der Landwirtschaft aus der Auenlandschaft verschwanden. Dank Pro Natura und einer Aufwertungsmassnahme im Wannengraben gibt es nun wieder einen. Auf unserem Weg zurück Richtung Informationszentrum staunen wir über die vielfältige Vegetation und «Architektur » der Auen. An einem stillen Ufergewässer bleibt der Witisheriff plötzlich stehen: «Ich suche meinen Hecht, der hier tagsüber oft verweilt.» Und tatsächlich, bei genauem Hinsehen entdecken wir die Umrisse eines Hechtes. Unbeweglich, kaum wahrzunehmen, verschmolzen mit der Umgebung. Für uns wird es der Moment, der alles sagt: Beobachtungen in der Natur brauchen Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, genau hinzusehen und sich Zeit zu nehmen. Eine Tugend, die in den letzten Monaten an Wichtigkeit gewann. Dominique Simonnot